Liebe Leserin, lieber Leser,
mit Wolf Schneider ist eine Legende des Journalismus, ein exzellenter Sachbuchautor, der Gründer der Henri-Nannen-Schule und Lehrer unzähliger Journalisten gestorben. Auch ich hatte das Privileg, dass er mein Lehrer war.
Wolf Schneider im Juni 2018 beim “Fototermin” bei ihm zu Hause in Starnberg. Seine Frau Lilo sorgt für die richtige Haltung.
Alles begann mit dem Auswahlverfahren. Schneider saß dort auf einem höheren Stuhl, als der Rest der Jury. Der Unterricht später bei ihm war weit mehr als nur die Vermittlung von Regeln wie “Adjektive sind die Pest”, “Einsilber sind stärker als Zweisilber” oder “Ein Punkt ist eine Einladung zur Pause. Überlegen Sie sich also genau, wo Sie einen Punkt setzen.”
Einmal, wir waren schon fertig mit unserer Ausbildung, hielt er eine Begrüßungsansprache vor den für das Auswahlverfahren nach Hamburg angereisten – und sehr aufgeregten – Bewerbern, die gerne einen Platz an der Henri-Nannen-Schule bekommen wollten. Er schüchterte sie ein: ihre Lebensläufe seien für das, was drin stehe, viel zu lang; Universitäten hätten keine Vornamen (“Ludwig-Maximilians-Universität, bäh! Uni München, das reicht.”). Überhaupt, viel zu viel Blähdeutsch und Eitelkeit in den Bewerbungen. Das saß. Wir kannten den Auftritt schon. Und hinterher fragte Schneider uns mit einem Grinsen an der Hotelbar: “Wir war ich?”
Schneider verstand, dass ein guter Lehrer auch immer ein guter Unterhalter sein muss. Ging es um die Besprechung von Übungsreportagen, stand der Mülleimer direkt neben seinem Tisch. War ein Texteinstieg ganz mißraten, landete das Blatt Papier nach der Lektüre der ersten Zeilen darin, begleitet von dem Satz: “Sie haben soeben Ihren ersten und einzigen Leser verloren.” Vor ihm lagen für die Textredigatur stets drei Filzstifte: ein blauer, ein grüner und ein roter. Der Grüne war demonstrativ geschlossen, er wurde nur gebraucht, wenn etwas von Schneider für gut befunden wurde. Und das war selten. Häufiger im Einsatz war blau (neutral) oder rot für deutliche Wertungen (“Bäh!”, “Zum Kotzen!”).
Mehrmals besuchte ich ihn und seine Frau in Starnberg. Es war stets ein Erlebnis. Einmal begrüßte er mich und meine sehr geschätzte Mitschülerin Heike Cobanli mit lautstarker Fanfaren-Musik aus dem Lautsprecher an einem Sonntag. Es gab Weisswürste, Weissbier und wie stets Champagner. Er war ein guter Zuhörer, neugierig und hatte immer eine Anekdote parat. Er las viel, allerdings in einer ihm eigenen Technik. Dafür riß er lesenswerte Texte aus Zeitungen und Zeitschriften aus und sammelte diese, etwa für eine längere Zugfahrt. Erst dann las er die so gesammelten Artikel. Aus Hamburg bekam er stets den Pressespiegel von Gruner + Jahr per Post zugesendet und studierte den Branchentratsch.
Dass es auch bei Beerdigungen auf Sprache und Unterhaltungstalent ankommt, macht der Einstieg in diesen Bericht über Wolf Schneiders Beisetzung, die an diesem Montag stattfand, aus der “Süddeutschen Zeitung” klar:
“Für einen Trauerredner gibt es zwei Dinge zu beachten. Erstens: Man muss die Zuhörer trotz des Anlasses auch mal zum Lachen bringen. Zweitens: Man sollte ein zerknülltes Blatt Papier mit ans Pult nehmen. Wenn einem die Stimme bricht und die Tränen kommen, sollte man auf das Papierknäuel blicken und sich vorstellen, es sei Hundekacke. Das hilft!
Die Tipps stammen von Wolf Schneider, dem Sprachkritiker, Journalisten und ehemaligen Leiter der Henri-Nannen-Schule (1979-1995), der am 11. November im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Am Montag ist Schneider auf dem Starnberger Waldfriedhof beigesetzt worden. Von den Ratschlägen für die Trauerrede berichtet Schneiders Enkelin in ihrer Rede, vor sich den Papierball. Als die Stelle mit der Hundekacke kommt, ist auch Schneiders erste Vorgabe erfüllt: Die Menschen in der Trauerhalle lachen.”
Was der Reporter nicht aufgeschrieben hat, war der vermutlich beste Lacher, der ebenfalls von seiner Enkelin, Julia Ney, kam. Die Enkelin sagte: “Leider konnten wir Dir Deinen letzten Wunsch nicht erfüllen.” Schweigen. “Auf Deinem Grabstein sollte ja stehen: Er starb ungespiegelten Darms.”
Es war stets lustig mit Wolf Schneider.
Schneider hätten diesen Text als viel zu lang empfunden. Deshalb war es das auch für heute. Ein weiterer Newsletter mit gewohnten Inhalten folgt demnächst. Wer bis dahin noch mehr Anekdoten von und über Schneider lesen möchte, wird hier fündig.
Mit traurigen Grüßen,
Martin U. Müller
Traueranzeige aus der “Süddeutschen Zeitung” vom 19.11.2022